Judit, 18, und die Experimente:

  2. Berlin     Das Blut im Gesicht macht ein korrektes...

23rd Sep
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2. Berlin

 

 

Das Blut im Gesicht macht ein korrektes Vorgehen unmöglich. Da gilt es, abzuwarten, nicht nervös zu werden, es wird gerinnen.

Alles gerinnt, auch die Schmerzen werden weniger oder ich taub oder war es schon immer. Mich anzusehen ist kein erfreulicher Zeitvertreib. Mich nackt anzusehen fast albern, mit dem Blut, aber auch ohne: Schön war ich nie.

So schön, wie man es von einem Mädchen heute erwartet, bin ich nie gewesen.

Scherben eignen sich am besten für kleinere Eingriffe am menschlichen Körper. Für filigranere Schnitte bevorzuge ich eine Rasierklinge der Marke Gillette.

Ab heute werde ich nicht mehr unscheinbar sein, das steht fest.

Das weißt du am Anfang nicht, wenn dein Gehirn so beeindruckend ist wie das einer Gurke, dass du nicht schön bist, und dass es nur darum geht, das verstehst du nicht, als kleiner Mensch, wenn sich keiner entzückt dir zuwendet.

Ein Unwohlsein hat mich immer begleitet, auf den Spielplätzen oder wenn Erwachsene mich ratlos betrachteten, aber es schiene mir heute übertrieben, dieses Gefühl meiner nicht vorhandenen Attraktivität zuzuschreiben. Ich vermutete früher, dass ich einer dieser Einzelgänger wäre, die es großartig finden, am Rand zu stehen und Bäume zu beobachten, in den Schulpausen.

Niemand war gegen mich, ich war keiner, der aus der Gruppe verstoßen wurde, denn ich hatte nie einer Gruppe angehört, aus der man mich hätte ausschließen können.

Ich bin ein Mensch, mit dem andere durchaus reden, doch mit den Augen suchen sie bereits auffällig nach interessanteren Personen. Ich bin einer dieser Touristen-Sorte Mensch, die man mithin an Urlaubsorten antrifft und sich fragt, wie sie damit leben können, so abstoßend unscheinbar zu sein.

Dass ich den optischen Anforderungen, den das kollektive Unbewusste an junge Mädchen stellt, nicht genügte, wurde mir später klar, als sich die Kinder um mich in schöne und unauffällige Personen teilten, von den Hässlichen, den Dicken, Pickligen, Brillenträgern, Deformierten wollen wir nicht reden, die wurden gequält.

Mich gab es nicht.

Im Universum der Kinder gab es nur die Schönen; das hieß für ein Mädchen: über eine klar erkennbare Farbe im langen Haar zu verfügen, dünn zu sein und Teenagern in Zeitschriften zu gleichen – oder eben nicht vorhanden zu sein, falls keines der Kriterien zutraf.

Das Äußere bei Jungen – es sei denn, sie gehörten zu den Gequälten – war unerheblich.

Ich wirke, als hätte mich einer mit einer Schablone gemalt und unerwartet einen Hustenanfall bekommen.

Kaum einer von denen, die später sagen würden: „Erinnert ihr euch an …, sie war das heißeste Mädchen der ganzen Schule“, würde je wissen, wie es ist, nicht dieses heißeste Mädchen gewesen zu sein, sondern nur eines.

Die Haare habe ich mir gefärbt, den Gesamteindruck konnte das nicht verbessern. Ich blieb ein Nichts, mit blonden Haaren, die den Blick eines Betrachters schneller auf das unter dem Haar Liegende lenken sollten. Falls mich einer betrachten mag. Was nie der Fall ist.

Ein Mädchen, das aussieht wie eine Hundemischung mit blond gefärbten Haaren, wird nirgends mit Freudentänzen willkommen geheißen.

Meine Mutter betont in Gesprächen mit Leuten ihres Schlages, mit Erwachsenen, die mich ratlos betrachten, meine hervorragenden Leistungen. Hastig und als müsse sie sich rechtfertigen für das, was sie hergestellt hat.

Leistungen sind völlig unerheblich. Ein glänzendes Abitur, ein Studienplatz in der nuklearen Raumforschung belanglos. Wenn man ein Mädchen ist, das aussieht wie ich, kann man mehrere Nobelpreise bekommen, es ist egal, es lässt kein Wohlbefinden entstehen.

Für ein Mädchen ist allein von Bedeutung, Freundinnen zu haben und Jungs, die mit ihr zusammen sein wollen. Wenn Jungs sich hätten für mich entscheiden können, haben sie es nie getan. Wenn Mädchen mich nach gemeinsamen Unternehmungen hätten fragen können, erfolgte es nie. Mein Becken ist zu breit. Ich weiß nicht, wie ich das beheben kann. Die Brust wird beeindruckend sein, nachdem ich die Beutel mit der Gefrierflüssigkeit unter den Muskel geschoben haben werde.

Im Gesicht habe ich die Brauen geschnitten, die Nase, den Mund, die breiten Schnitte sehen besser aus als das, was da vorher war, das Blut: interessant, es sieht aus, als sei ich eine exotische Person.

 

Judith 2

1. Brüssel Judit, 12, und die Kraft:   Vielleicht wollte ich schon...

16th Sep
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1. Brüssel

Judit, 12, und die Kraft:

 

Vielleicht wollte ich schon immer ein Junge sein. Vermutlich.

Ein hormonell bedingtes Problem, das es nicht gäbe, wäre ich kein Mädchen. Seit ich mich erinnern kann – und ich muss zugeben, aufgrund meines Alters liegt dieser Punkt nicht zu weit entfernt –, versuchte ich mich wie ein Mann zu bewegen, ich trug nie Mädchenkleidung und vermied alles Weiche, Rosafarbene, alles, was gefallen wollte.

Ich bewunderte die wohltuende Gleichförmigkeit des männlichen Gefühlshaushaltes. Selten hatte ich einen Jungen oder Mann sagen hören: „Ich bin so entmutigt“, oder auch: „Ich bin so unendlich traurig, weil ich mich für einen hässlichen und sinnlosen Menschen halte.“

Ich hingegen hatte mich immer entmutigt gefühlt und hässlich und sinnlos; das verschwand aber, nachdem ich entschieden hatte, mich nicht von verschwommenen, weiblichen Zuständen beherrschen zu lassen. Kommt jetzt ab und an ein Gefühl, das Zweifel an meiner Person beinhalten könnte, beobachte ich es sehr scharf, bis es wieder verschwindet. Im scharf Beobachten bin ich unschlagbar.

Meine Mutter hatte sich vor zwei Jahren in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen. Ich erinnere mich an das Geräusch, als sie die Roll-Läden schloss und einen Stuhl unter die Türklinke klemmte. Seither war sie zu keiner Zeit, in der ich mich in der Wohnung bewegte, sichtbar gewesen. Ab und an musste sie ihr Zimmer verlassen haben, denn im Kühlschrank fehlten immer wieder Nahrungsmittel, nie so viel, dass es sofort auffallen würde, aber ein genaues Auge wie meines erfasst den Diebstahl.

Auf meine Mutter kann ich nicht mehr zählen, und auch mein Bruder ist mir keine Hilfe, denn meine Großmutter nahm ihn zu sich. Auch in diesem Fall bestätigte sich der Vorteil, ein Junge zu sein, klar. Einem Mädchen traute man zu, dass es sich schon durchschlagen würde, zudem bin ich weder klein, noch niedlich, und mit so jemandem wie mir umgibt man sich nur, wenn man ihn aus Versehen geboren hat. Und selbst dann ergreifen die betreffenden Personen lieber die Flucht und verbarrikadieren sich.

Es war mir wohler, meine Mutter in ihrem Zimmer zu wissen. Als sie sich noch in der Wohnung bewegte, schien es ständig, als würde sie das Licht aus ihr saugen und es in Kälte verwandeln. Sie war ein sehr niedergeschlagener Mensch. Es war mir nur peinlich, sie liegen zu sehen, den Untergrund mit Schleim und Blut überziehend, zusammengekrümmt und wehrlos. Nachdem mein Vater sie verprügelt hatte.

Ich war ungefähr zehn, als es zu Hause seltsam wurde . Meine Eltern die sich zu streiten und schlagen begannen, mein Bruder, der zur Großmutter verschwand, und ich, die ich mit der Kälte allein blieb, die durch die undichten Fenster zu kommen schien. In der Zeit wurde mir klar, dass ich, sobald ich ausgereift wäre, ein Mann sein wollte.

Denke ich heute an Frauen, sehe ich etwas Hilfloses am Boden liegen, höre unsichere Stimmen unsichere Aussagen machen, sehe sie schwanken mit ratlosen Schritten.

Meinen Vater hatte ich im Schlaf an sein Bett gebunden. Nicht, weil ich etwas gegen ihn hatte, sondern ausschließlich, damit er mich nicht störte. Was nach einer Heldentat klingt, war nicht mehr, als einen Klumpen Fleisch einzuschnüren. Mein Vater war so betrunken, dass ich ihm auch beide Beine hätte amputieren können, was ich aufgrund mangelnder Motivation nicht getan habe.

Ich band ihn fest, mit Gürteln und Tüchern, knebelte ihn, was kompliziert war, denn ich wusste nicht abzuschätzen, wo sein Mundraum endete und sein Rachen begann. Ich wollte ihm nichts Schlechtes. Nur sehen wollte ich ihn nicht mehr. Und konnte mir auch nicht sicher sein, ob er nun, da meine Mutter nicht mehr zur Verfügung stand, mich schlagen wollte.

Im Gegensatz zu meiner Mutter konnte Vater sein Bett nicht verlassen. In den ersten Monaten fütterte ich ihn noch, doch er versuchte zu schreien und spuckte mich an, so dass ich diese Fürsorglichkeit einstellte.

Aus dem Zimmer meines Vaters kommen keine Geräusche, von meiner Mutter ist nichts zu hören.

Die Nahrungsaufnahme habe ich weitgehend eingestellt.

Ich nehme Abführtabletten und scheide jeden Tag mehrere Liter Flüssigkeit aus. Esse ich einen Apfel, warte ich ein paar Minuten, bis sich der Körper genommen hat, was er benötigt, dann übergebe ich mich. Ich würde gerne eine Wunde sein. Ich gleiche einem Jungen. Innerlich schon lange. Äußerlich immer mehr. Da sind nur noch Knochen und Sehnen. Und mein Wille.

 

 

aus: Judith-Monologe

Judit, 38, und die Ehe: Er würde mein letzter Mann sein, hatte...

09th Sep
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Judit, 38, und die Ehe:

Er würde mein letzter Mann sein, hatte ich mir geschworen, als ich ihn traf. Ich war noch nicht alt, doch ausnehmend müde. All das Leiden, die Grobheit, die Angst, die ich als Liebe verstanden hatte. Und zum Alleinsein taugte ich doch so wenig wie die meisten, die Berührungen brauchen, um nicht traurig zu werden. Es ist zu schmutzig, das Leben, die Welt ein zu hässlicher Ort und lässt sich doch nur ertragen, wenn einer dir sagt, dass du weiteratmen sollst.

Und dann traf ich ihn und dachte, es hätte sich gelohnt, das vergangene Leiden, ich hätte gelernt, wäre nun reif oder hätte mir Glück verdient. Was für eine absurde Idee.

Es schien so einfach, am Anfang, dass ich nicht verstand, was in meinen Liebesgeschichten früher so schwierig gewesen war.

Ich mochte, wie er mich liebte. Nicht der Akt, der mehrmals täglich sein Interesse manifestierte, machte mich glücklich, sondern mit welcher Ausschließlichkeit er seine Welt um meine kreisen ließ. Ich hatte die Ausnahme gefunden, den Mann zum Altwerden, den Kameraden, Bruder, die Freundin.

Unser erstes Jahr fand, in meiner Erinnerung, im Bett statt, in dem ich lag, und er brachte mir Essen, er trug und streichelte mich. Es schien, als hätte ich den einzigen Mann gefunden, der anhänglich war und leise, der sich nicht scheute, seine Frau zu berühren, um die er sich sorgte. Ich dachte, dass er vielleicht kein richtiger Mann wäre, weil er so weich war und mir zuhörte, obgleich ich kaum etwas zu sagen hatte. Ich liebte es, ihn durch das Haus gehen zu sehen, mit all diesen unbeholfenen Männergesten, den Dingen, die er zu Boden fallen ließ, den Schaden, den er anrichtete, der Ratlosigkeit, die ihn umgab, wenn er etwas außerhalb seines Universums antraf, und das war fast alles, was zum täglichen Leben notwendig war. Er war wie ein Kind, bevor er wieder zu einem Mann wurde, den ich nicht verstand. Nach jenem ersten Jahr begann das, sehr unauffällig kam es, so dass ich erst glaubte, er hätte eine leichte Erkältung oder einen Virus, dass er doch einfach krank sei oder ihm anderweitig unwohl. Er saß vor unserem Haus und trank Bier, er wischte sich seine Hände an seiner Unterhose ab, und sein Mund stand offen. Er hörte mir nicht mehr zu. Er sah mich nicht mehr. Er war abgelenkt durch etwas in den Tiefen seines Gehirns, zu dem ich keinen Zugang hatte, ich vermutete, dass es dort einen schwarzen Teich geben müsste, in dem er baden ging, jeden Tag.

Die Berührungen wurden seltener, sein Schweigen wie das aller Männer, die ich zuvor gekannt hatte. Freunde tauchten auf, die ich in dem Jahr zuvor nie gesehen hatte.

Männer, die mich kurz musterten, als sei ich etwas, das Bier brächte.

Er sagte: „Ein Mann braucht seine Freunde.“ Und ich wusste nicht, wozu. Ich verstand nicht, wo diese Anteile seiner Person zuvor verborgen gewesen waren, doch die Aura absoluter Leere, die sich um ihn aufhielt, machte mir Angst. Er schlief noch einmal im Monat mit mir, achtlos. Und seine Stimme, die ich wohl nur flüsternd gehört hatte zuvor, wurde zu etwas, das mich erschreckte. Wenn er die Nachrichten kommentierte, lachte er kurz auf, um sich im Anschluss seine Weltsicht zu erklären. Es war, als wäre er sich selbst entnommen und durch Ersatzmaterial ausgetauscht worden. Mein Körper war der einzige Zugang zu seinen Gefühlen gewesen – und nun wertlos.

Ich lief in befremdlichen Kleidern in der Wohnung, wollte ihn verführen, und sein Blick suchte etwas an der Decke.

Ich hatte ihn verloren und wollte ihn auch nicht wieder finden, diesen mir fremden Menschen, der morgens schweigend das Haus verließ, froh, sich in eine Welt zu begeben. Er benötigte Anweisungen, Lohnstreifen, Stechuhren, Hierarchien, und es war mir unbegreiflich, wie man sich auf das Gehirn eines Vorgesetzten verlassen konnte, wusste man doch, dass aller Mensch Gehirne nicht zu etwas Großem taugten. Es schien, als wäre er froh, wieder bei sich zu sein, und hatte er im ersten Jahr fast geweint, wenn er zur Arbeit gehen musste, sprang er nun mit federnden Schritten aus dem Haus. Er kam abends zurück, er roch nach Alkohol, er war zufrieden, er grüßte mich kaum. Er kommentierte die Nachrichten, wir führten eine normale Ehe. Ich wollte keine normale Ehe, ich wollte keinen Mann. Ich wollte ihn zurück. Doch er war verloren oder eine Einbildung gewesen. Ich ahnte, dass es für mich alleine keinen Frieden geben würde und mit einem Mann nicht.

Vielleicht schnitt ich ihm in der Nacht die Kehle auf. Wahrscheinlicher ist, dass das Blut aus meinen Augenhöhlen dringt. Man kann sich durchaus die Augen aus den Höhlen reißen. Wenn man es fest genug will.