Judit, 18, und die Experimente:
2. Berlin
Das Blut im Gesicht macht ein korrektes Vorgehen unmöglich. Da gilt es, abzuwarten, nicht nervös zu werden, es wird gerinnen.
Alles gerinnt, auch die Schmerzen werden weniger oder ich taub oder war es schon immer. Mich anzusehen ist kein erfreulicher Zeitvertreib. Mich nackt anzusehen fast albern, mit dem Blut, aber auch ohne: Schön war ich nie.
So schön, wie man es von einem Mädchen heute erwartet, bin ich nie gewesen.
Scherben eignen sich am besten für kleinere Eingriffe am menschlichen Körper. Für filigranere Schnitte bevorzuge ich eine Rasierklinge der Marke Gillette.
Ab heute werde ich nicht mehr unscheinbar sein, das steht fest.
Das weißt du am Anfang nicht, wenn dein Gehirn so beeindruckend ist wie das einer Gurke, dass du nicht schön bist, und dass es nur darum geht, das verstehst du nicht, als kleiner Mensch, wenn sich keiner entzückt dir zuwendet.
Ein Unwohlsein hat mich immer begleitet, auf den Spielplätzen oder wenn Erwachsene mich ratlos betrachteten, aber es schiene mir heute übertrieben, dieses Gefühl meiner nicht vorhandenen Attraktivität zuzuschreiben. Ich vermutete früher, dass ich einer dieser Einzelgänger wäre, die es großartig finden, am Rand zu stehen und Bäume zu beobachten, in den Schulpausen.
Niemand war gegen mich, ich war keiner, der aus der Gruppe verstoßen wurde, denn ich hatte nie einer Gruppe angehört, aus der man mich hätte ausschließen können.
Ich bin ein Mensch, mit dem andere durchaus reden, doch mit den Augen suchen sie bereits auffällig nach interessanteren Personen. Ich bin einer dieser Touristen-Sorte Mensch, die man mithin an Urlaubsorten antrifft und sich fragt, wie sie damit leben können, so abstoßend unscheinbar zu sein.
Dass ich den optischen Anforderungen, den das kollektive Unbewusste an junge Mädchen stellt, nicht genügte, wurde mir später klar, als sich die Kinder um mich in schöne und unauffällige Personen teilten, von den Hässlichen, den Dicken, Pickligen, Brillenträgern, Deformierten wollen wir nicht reden, die wurden gequält.
Mich gab es nicht.
Im Universum der Kinder gab es nur die Schönen; das hieß für ein Mädchen: über eine klar erkennbare Farbe im langen Haar zu verfügen, dünn zu sein und Teenagern in Zeitschriften zu gleichen – oder eben nicht vorhanden zu sein, falls keines der Kriterien zutraf.
Das Äußere bei Jungen – es sei denn, sie gehörten zu den Gequälten – war unerheblich.
Ich wirke, als hätte mich einer mit einer Schablone gemalt und unerwartet einen Hustenanfall bekommen.
Kaum einer von denen, die später sagen würden: „Erinnert ihr euch an …, sie war das heißeste Mädchen der ganzen Schule“, würde je wissen, wie es ist, nicht dieses heißeste Mädchen gewesen zu sein, sondern nur eines.
Die Haare habe ich mir gefärbt, den Gesamteindruck konnte das nicht verbessern. Ich blieb ein Nichts, mit blonden Haaren, die den Blick eines Betrachters schneller auf das unter dem Haar Liegende lenken sollten. Falls mich einer betrachten mag. Was nie der Fall ist.
Ein Mädchen, das aussieht wie eine Hundemischung mit blond gefärbten Haaren, wird nirgends mit Freudentänzen willkommen geheißen.
Meine Mutter betont in Gesprächen mit Leuten ihres Schlages, mit Erwachsenen, die mich ratlos betrachten, meine hervorragenden Leistungen. Hastig und als müsse sie sich rechtfertigen für das, was sie hergestellt hat.
Leistungen sind völlig unerheblich. Ein glänzendes Abitur, ein Studienplatz in der nuklearen Raumforschung belanglos. Wenn man ein Mädchen ist, das aussieht wie ich, kann man mehrere Nobelpreise bekommen, es ist egal, es lässt kein Wohlbefinden entstehen.
Für ein Mädchen ist allein von Bedeutung, Freundinnen zu haben und Jungs, die mit ihr zusammen sein wollen. Wenn Jungs sich hätten für mich entscheiden können, haben sie es nie getan. Wenn Mädchen mich nach gemeinsamen Unternehmungen hätten fragen können, erfolgte es nie. Mein Becken ist zu breit. Ich weiß nicht, wie ich das beheben kann. Die Brust wird beeindruckend sein, nachdem ich die Beutel mit der Gefrierflüssigkeit unter den Muskel geschoben haben werde.
Im Gesicht habe ich die Brauen geschnitten, die Nase, den Mund, die breiten Schnitte sehen besser aus als das, was da vorher war, das Blut: interessant, es sieht aus, als sei ich eine exotische Person.