Judith 2
1. Brüssel
Judit, 12, und die Kraft:
Vielleicht wollte ich schon immer ein Junge sein. Vermutlich.
Ein hormonell bedingtes Problem, das es nicht gäbe, wäre ich kein Mädchen. Seit ich mich erinnern kann – und ich muss zugeben, aufgrund meines Alters liegt dieser Punkt nicht zu weit entfernt –, versuchte ich mich wie ein Mann zu bewegen, ich trug nie Mädchenkleidung und vermied alles Weiche, Rosafarbene, alles, was gefallen wollte.
Ich bewunderte die wohltuende Gleichförmigkeit des männlichen Gefühlshaushaltes. Selten hatte ich einen Jungen oder Mann sagen hören: „Ich bin so entmutigt“, oder auch: „Ich bin so unendlich traurig, weil ich mich für einen hässlichen und sinnlosen Menschen halte.“
Ich hingegen hatte mich immer entmutigt gefühlt und hässlich und sinnlos; das verschwand aber, nachdem ich entschieden hatte, mich nicht von verschwommenen, weiblichen Zuständen beherrschen zu lassen. Kommt jetzt ab und an ein Gefühl, das Zweifel an meiner Person beinhalten könnte, beobachte ich es sehr scharf, bis es wieder verschwindet. Im scharf Beobachten bin ich unschlagbar.
Meine Mutter hatte sich vor zwei Jahren in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen. Ich erinnere mich an das Geräusch, als sie die Roll-Läden schloss und einen Stuhl unter die Türklinke klemmte. Seither war sie zu keiner Zeit, in der ich mich in der Wohnung bewegte, sichtbar gewesen. Ab und an musste sie ihr Zimmer verlassen haben, denn im Kühlschrank fehlten immer wieder Nahrungsmittel, nie so viel, dass es sofort auffallen würde, aber ein genaues Auge wie meines erfasst den Diebstahl.
Auf meine Mutter kann ich nicht mehr zählen, und auch mein Bruder ist mir keine Hilfe, denn meine Großmutter nahm ihn zu sich. Auch in diesem Fall bestätigte sich der Vorteil, ein Junge zu sein, klar. Einem Mädchen traute man zu, dass es sich schon durchschlagen würde, zudem bin ich weder klein, noch niedlich, und mit so jemandem wie mir umgibt man sich nur, wenn man ihn aus Versehen geboren hat. Und selbst dann ergreifen die betreffenden Personen lieber die Flucht und verbarrikadieren sich.
Es war mir wohler, meine Mutter in ihrem Zimmer zu wissen. Als sie sich noch in der Wohnung bewegte, schien es ständig, als würde sie das Licht aus ihr saugen und es in Kälte verwandeln. Sie war ein sehr niedergeschlagener Mensch. Es war mir nur peinlich, sie liegen zu sehen, den Untergrund mit Schleim und Blut überziehend, zusammengekrümmt und wehrlos. Nachdem mein Vater sie verprügelt hatte.
Ich war ungefähr zehn, als es zu Hause seltsam wurde . Meine Eltern die sich zu streiten und schlagen begannen, mein Bruder, der zur Großmutter verschwand, und ich, die ich mit der Kälte allein blieb, die durch die undichten Fenster zu kommen schien. In der Zeit wurde mir klar, dass ich, sobald ich ausgereift wäre, ein Mann sein wollte.
Denke ich heute an Frauen, sehe ich etwas Hilfloses am Boden liegen, höre unsichere Stimmen unsichere Aussagen machen, sehe sie schwanken mit ratlosen Schritten.
Meinen Vater hatte ich im Schlaf an sein Bett gebunden. Nicht, weil ich etwas gegen ihn hatte, sondern ausschließlich, damit er mich nicht störte. Was nach einer Heldentat klingt, war nicht mehr, als einen Klumpen Fleisch einzuschnüren. Mein Vater war so betrunken, dass ich ihm auch beide Beine hätte amputieren können, was ich aufgrund mangelnder Motivation nicht getan habe.
Ich band ihn fest, mit Gürteln und Tüchern, knebelte ihn, was kompliziert war, denn ich wusste nicht abzuschätzen, wo sein Mundraum endete und sein Rachen begann. Ich wollte ihm nichts Schlechtes. Nur sehen wollte ich ihn nicht mehr. Und konnte mir auch nicht sicher sein, ob er nun, da meine Mutter nicht mehr zur Verfügung stand, mich schlagen wollte.
Im Gegensatz zu meiner Mutter konnte Vater sein Bett nicht verlassen. In den ersten Monaten fütterte ich ihn noch, doch er versuchte zu schreien und spuckte mich an, so dass ich diese Fürsorglichkeit einstellte.
Aus dem Zimmer meines Vaters kommen keine Geräusche, von meiner Mutter ist nichts zu hören.
Die Nahrungsaufnahme habe ich weitgehend eingestellt.
Ich nehme Abführtabletten und scheide jeden Tag mehrere Liter Flüssigkeit aus. Esse ich einen Apfel, warte ich ein paar Minuten, bis sich der Körper genommen hat, was er benötigt, dann übergebe ich mich. Ich würde gerne eine Wunde sein. Ich gleiche einem Jungen. Innerlich schon lange. Äußerlich immer mehr. Da sind nur noch Knochen und Sehnen. Und mein Wille.