Aus”REPORTAGEN.CH
Das wird eine Geschichte über die Provinz, aus der fast die gesamte Welt besteht, über untergegangene und untergehende Gesellschaftssysteme, über eine Kleinstadt in Thüringen, die ich 1984 verließ, in die ich 2012 zurückkehrte, um zu sehen, wie sie sich verändert hat — Das ist eine Geschichte über Weimar,
die Stadt in der ich irgendwann aus Versehen geboren wurde, in der ich als es die DDR noch gab aufwuchs, die ich als Staatsfeindin vor über 20 Jahren verlassen habe, und in die ich nicht zurückkehrte, weil Weimar nicht auf dem Weg lag.
Weimar. Ein Name bei dem ich an elegante, blauäugige Hunde und das blaue Ochsenauge, eine Quelle im traumgleichen Park denke, an Villen wie von irrsinnigen Romantikern gebaut, und Kopfsteinpflaster.
Vor Jahren erschien mir Weimar während des Schlafes - es waren gute Träume.
Der Name der Stadt kommt aus dem Altgermanischen und bedeutet : Heiliger Sumpf.
Mit dieser Pointe könnte ich die Inszenierung des Stückes: Heimkehr! abbrechen und wieder abreisen, an anderen Kleinstädten vorbei, Stunden, bis es wieder einen Flecken mit über hunderttausend Menschen gibt. Hingegen soll es ja Phobien überwindend wirken, sich seinen Ängsten zu stellen. Wozu, war mir allerdings nie klar, hilft die Angst dem Menschen doch zu überleben.
Ich habe überlebt. Ich hatte Angst. Davor, dass immer alles so weitergehen würde.
Damals.
Aus dem Fenster meiner schlecht geheizten Wohnung, in der Putz von den Wänden fiel, in der das Klo auf dem Gang und Warmwasser nicht vorhanden war, saß ich und wartete auf ein neues Leben. Auf dem Parkplatz gegenüber gaben Busse im Stundentakt Horden grauhaariger Menschen in beiger und hellgelber Kleidung frei, die dann durch die Klassikerstätte stromerten, mit entrückten Gesichtern, im Rausch des Wiedererkennens. Der fast religiöse Verehrung des klassischen Kanon, die im Zweifel immer zur Ablehnung alles Neuen führt, weil es den eigenen Kosmos erschüttern könnte, schon damals waren sie mir suspekt. Da kamen sie, die Lehrer, die Pensionäre, die Dichtkreisleiter, in das beschauliche von vorne renovierte Gefängnis, zeigten weder ein Interesse an Diktatur oder KZ, und strichen mit bebender Hand über Goethes Hausfassade, betasten die Blätter des Ginko Baumes, um im Anschluss wieder in klimatisierten Bussen in die Freiheit zu reisen. Das Elend des Tourismus bis heute, überall auf der Welt. Uns Eingeborenen war jeder Kontakt zu den eierschalenfarben Gekleideten untersagt, wir saßen in den ungeheizten Wohnungen und sahen den Bussen nach.
Der Feldversuch Sozialismus befand sich in den Achtzigerjahren auf seinem desaströsen Höhepunkt. Die Städte waren keine blühenden Auen, sondern verfallende Ruinen, durch die enttäuschte Menschen liefen. Ein paar wenige, mit dem SED Parteibuch oder Glück, lebten in Villen; man munkelte sie hätten eine Heizung. Die meisten wohnten in zu kleinen, zu alten Wohnungen, mit schlechter Isolierung und mangelnden Perspektiven. Die Vorteile des Systems, relative Gleichberechtigung und kostenlose Kinderbetreuung und eine völlige Irrelevanz des Geldes. Der die Stimmung senkende Nachteil: kein Anreiz für Nichts.
An den Sieg des Kommunismus glaubten nur mehr Verhaltensauffällige, das Leistungssystem beschränkte sich auf den Notendurchschnitt der jedem - im Fall er kam aus einem Arbeiter und Bauernelternhaus - einen Studienplatz bescherte. Arzt konnte man werden, in einer Poliklinik, in der das Heizmaterial fehlte. Oder Maschinenbauingenieur. Egal, alles war egal, weil den meisten der Grund fehlte, sich zu engagieren. Der Mensch liebt den Wettbewerb, er braucht Demokratie, die Möglichkeit seinen Status zu verbessern, und ein intaktes Umfeld, um glücklich zu sein. All das entfiel in der DDR, die meisten waren nicht glücklich. Viele, ohne dass sie hätten benennen können, warum. Die dachten, wollten nicht eingesperrt sein, nicht überwacht nicht eingeschränkt. Man weiß heute, dass die unglücklichsten Menschen in Diktaturen leben. Oder vegetieren. Je nach persönlicher Anpassungsfähigkeit. Der Winter Neunzehnhundertvierundachtzig. Es hatte einen Heizmittel(Kohle)- Engpass gegeben, die Einwohner der kleinen Stadt, die unter Frost wie nach einem Atomschlag lag, verbrannten Besenstile, Möbel; sie klauten Holz in den Wäldern, sie froren, das Wasser war gefroren, die eisernen Tonnen auf den Straßen kohlten, der Ruß lähmte die Stadt. Die Kinder wurden morgens in Krippen gebracht, die Frauen und Männer arbeiteten ihre acht Stunden, egal ob sie sich bemühten oder nicht, sie würden ihren Lohn nicht steigern können, würden keine Leckereien kaufen oder im Winter nach Mallorca reisen können. Sie gingen in aus Plastikmaterial hergestellten praktischen Kleidungsstücken in neonbeleuchtete Arbeitsstellen und huschten wieder nach Hause in ihre kalten Wohnungen. Sie sahen Ost-Fernsehen, betrachteten in den Nachrichten die Erfolge des Arbeiter- und Bauernstaates, die doch keine Auswirkung auf ihr Leben mit sich brachten. Ich hatte in den gelben Kasten, den ich von meinem Fenster aus sehen konnte , einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden geworfen und um Ausreise gebeten. Nein, geradezu bestanden hatte ich darauf, in Berufung auf irgendeinen Absatz in der Menschenrechtskonvention. Die weiche Flucht. Man wurde nicht erschossen, aber der Ausgang der Aktion war ungewiss. Viele Wohnungen waren verplombt, man wusste nicht, wohin sie verschwunden waren, die Ausreisewilligen, ob in die Freiheit oder in das Gefängnis für Landesverräter nach Bautzen. Die Menschen, die eine Flucht planten oder dem Minister einen Brief geschickt hatten, trafen sich täglich im Weimarer Café Resi und versuchten die Angst vor dem Neuen zu teilen. Man trug die Haare lang, hatte sich in Gebrauchtwarenläden eingekleidet, kannte sich flüchtig vom Blues Festival, das man in Ermangelung von Jugendrevoltemusik besuchte, man misstraute sich, über schlechtem Kaffee sitzend, denn jeder konnte bei der Staatsicherheit sein. Ein Land gefangen in Paranoia. Die meisten hatten die Arbeit verloren, wir waren Schreinerinnen gewesen, oder Korbflechterinnen, Handweber oder Puppenspieler wie ich, die Revolte zeigte sich in einer seltsam nostalgischen Berufswahl, mit der wir scheinbar die DDR zu ignorieren versuchten. Und nun waren wir vogelfrei, mussten damit rechnen, ständig nachdrücklich zu strengen Verhören geladen zu werden oder zu verschwinden, wohin auch immer. Jeden Tag kam einer weniger zum Ausreisestammtisch. Die Stadt schien zu warten, auszusterben und zu frieren. Wer keinen Alkohol trank oder aus anderen Gründen gutgelaunt war, betäubte sich mit Bromisoval ein Sedativum und Hypnotikum mit erstaunlicher Wirkung.
Es war so kalt, dass es erstaunlich wenige Touristen gab in jenem Winter, und ich wusste nicht, wie lange ich den Sozialismus noch aushalten würde. Falls ich einmal Post bekam, in jenen Monaten, war sie immer deutlich geöffnet, vor der Tür stand immer ein Mann, der da nicht hingehörte, in der Wohnung roch es nach Toilette, die aus einer Fallgrube bestand, die Fenster waren voller Eisblumen, draußen brannte der Schnee. Ich hatte keine Freunde, vielleicht weil ich schon lange wusste, das ich nicht lange bleiben würde, ich hatte keine intakte Familie, ich hatte dauernd Zahnschmerzen. Die medizinische Versorgung war flächendeckend, aber von fragwürdiger Qualität. Zahnarzt hieß: mit Fußpedal betriebene Bohrer, keine Betäubung.
Ich wusste nicht, wie andere Menschen das aushielten, in einer Stadt mit zwei Cafés, einigen Restaurants, in denen man nach Vorbestellung Soljanka und Ragout Fine essen konnte, zwei Kinos und einem Theater. Einer Stadt, in der nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen noch nicht einmal von Hunden belebt waren. Der real existierende Kommunismus zeichnete sich durch die völlige Abwesenheit von Angeboten aus, die die Lebenslust der Menschen hätten steigern können.
Nach dem längsten Winter in der Stadt, wurde ich an einem Morgen im April von einem Mitglied des Ministerium des Inneren in einen Zug gesetzt, mein Pass wurde vernichtet, und ich konnte das Land verlassen, in der Annahme, es als Staatsfeindin nie wieder zu sehen.
Über zwanzig Jahre später
Ich fahre nach Weimar. Ich muss keinen Pass zeigen, es gibt weder Grenze noch Hunde, ich warte auf eine Erregung, auf ein Wiedererkennen nach einer Flut von Gefühlen, doch da ist nicht einmal ein tiefes Wiedererkennen. Wie ein Pferd nachts in den Stall findet, erinnert sich etwas in mir an den Weg durch die Belvederer Alle, auf die ein böser Gott einen riesen Klumpen Misthotel geworfen hat, in die Stadtmitte zum Hotel Elefant. Es ist später Nachmittag. Es ist kühl, seit meinem Eintreffen in die Stadt habe ich vielleicht 6 Passanten auf den Straßen gesehen.
Der Elefant, das erste Haus am Platz, unerreichbar früher, heute werde ich in eine Suite geführt. Auf dem Balkon zum Markt , auf dem Hitler stand, die Weimarer riefen ihn liebevoll mit : Lieber Hitler komm heraus, aus dem Elefantenhaus—steht heute eine Statue von van der Velde, Gründer der Kunstgewerbeschule Weimar, die 1915 geschlossen wurde. Van der Velde verließ die Stadt, weil er dem ausländerfeindlichen Druck nicht mehr gewachsen war. Er starb in den Fünfziger Jahren in Zürich. Das verbindet uns. Die Achse Weimar Zürich, die Stadt in der wir lebten, und die, in der ich vielleicht sterben werde. Der Marktplatz, auf den Van der Felde schaut, ist reizend. Geputzt, gewienert, wieder nach Originalplänen aufgebaut wie der Frankfurter Römer, Menschen mit Fahrrädern, Reichtum, ein wenig Heidelberg oder Tübingen, ja, es könnte Tübingen sein, mit dem mich genauso wenig verbindet, ich erinnere mich an nichts. An kein Gefühl, keinen Schritt, keinen Freund. Ich betrachte alte Menschen, sie könnten mit mir in der Schule gewesen sein. Wie sieht ein Mensch meines Alters aus? Auch im Resi, in das ich nun gehe, fällt mir kaum etwas ein, zu sehr hat es sich verändert, oder ich mich, der alte Dissidententreff ist heute messingfarben, einem Wiener Kaffeehaus, das es in Wien so nie gäbe, nachempfunden. Ich muss mir Bekannte borgen, die in Weimar geblieben sind, die die Lücke in meinem Leben schließen können. War es ein Fehler wegzugehen? Hätte ich einfach in der kleinen Stadt bleiben können? Angela Egli ist Fachreferentin für Literatur in Weimar und vermisst kaum etwas in Weimar. Sie spricht angetan von der intakten Subkultur (manifestiert im Club ACC), von den vielen jungen Familien, die jetzt aus der Umgebung zuziehen. Während Orte wie Jena, Apolda, Gera und Gotha langsam aussterben, scheint Weimar doch ein kultureller Hot Spot zu sein. Frau Egli liebt Weimar und manchmal, vermutlich wenn es regnet, dünkt ihr, die Stadt mit ihrer hoch-kulturellen Aufladung, wie unter einem Kunstpelz, der vorgibt etwas besseres zu sein, aber die Identität seines Trägers, also der Bürger, nur zweifelhaft bestimmt. Frau Egli schaut auf die Kutschen auf dem Kopfsteinpflaster, sie fahren am Schloss vorbei, denn Turm ich früher wiederrechtlich bestiegen habe, auf die Stadt blickend und mir vorstellend, ich könnte wegfliegen. Sagte ich gerade Kutschen? Es fahren wirklich Kutschen durch die niedliche Disneywelt, ich bin nicht wahnsinnig geworden, die Touristen traben an all den Orten deutscher Hochkultur vorüber, viel Bewegung, ohne dass der Eindruck von Lebendigkeit entsteht. Die wichtigste Wende der Nachwende kam vielleicht mit der Ernennung Weimars zur Kulturhauptstadt. 1999. Da wurden nicht nur die Fassaden bunt gemalt, sondern ein kleines Beben ging durch die Stadt, deren Bevölkerungszahl übrigens, anders als in anderen ostdeutschen Kleinstädten, behutsam wächst. Für 2 Milliarden wurde unter Intendant Kauffmann saniert, gebaut, große Regisseurinnen, gute Kunst, neue Hotels, der Wandel von Weimar vom Tagestouristenmuseum zu einer Kulturdestination der Spitzenklasse. Heute sind die kleinen Häuser so hervorragend renoviert, dass sie wie Neubauten wirken, kein Schmutz auf den Straßen, selbst die für Deutschland typischen Ecken, da traurige Baumtriebe durch öden Asphalt vor tristen Billigsupermärkten stoßen, fehlen hier. Das Stadtbild wirkt trotz vieler junger Asiaten seltsam homogen. Als wären irgendwo ruhige staunende Menschen mit grauen Haaren hergestellt worden, die sich in Kutschen sitzend Goethe-Büsten zuwerfen. Die Hoffnungslosigkeit ist aus dem Straßenbild verschwunden, die Laune ist ausgeglichen, das Kaufverhalten prächtig und vielleicht gibt es weder ein Geheimnis noch eine Aura, sondern nur eine Kleinstadt mit großer Vergangenheit auf der Reise in eine angenehme Zukunft. Die Stadt Weimar als unbedeutenden Fleck gibt es seit 1410, ein paar Jahrhunderte sammelte der kleine Flecken Kraft vor dem intellektuellen Sturm der im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss und der Gönnerschaft Anna Amalias, der Mutter des Fürsten, und kurzzeitiger Landesregentin begann. Die rührige Kunstliebhaberin lockte Goethe und Schiller in den Sumpf, es folgten Cranach, Herder, Wieland, Bach, Liszt, Bechstein, Berlioz, Hummel, Wagner - Weimar im 18. Jahrhundert muss so gebrummt haben, wie London in den Sechzigern, Berlin vor den Nazis. Die ausschließlich männlichen Kunstschaffenden hockten in Kneipen, in Salons, die zu führen war Frauensache. Sie ließen sich vom Fürsten aushalten, das war das Kultursponsering jener Zeit, und eine unantastbare Aura von Heiligkeit glänzte bis in kommende Jahrhunderte, als sich Van der Felde und Gropius, Klee und Kandinsky, Steiner und Nietzsche in der Stadt ansiedelten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Bauhaus in Weimar gegründet. Und von den Einwohnern der Stadt nicht mit Begeisterung bedacht. Die Sage geht, dass viele Weimarer bis heute Veränderungen nicht besonders aufgeschlossen begegnen - doch wer mag schon Veränderungen?
Die Nationalsozialisten liebten Weimar, denn das Leuchten der Geisteskraft, das von ihr auszustrahlen schien, eignete sich hervorragend, um den Gedanken der Nazis einen goldenen Mantel umzulegen.
Das Bauhaus samt Feininger, Klee, Gropius, wurde zum Gehen geradezu angehalten, die Nazis blieben und finanzierten den Aufbau des Hotels Elefant, das bis heute in der Anmutung eines Baby-Speergebäudes strahlt. 1937 wurde auf dem Weimarer Hausberg das Lager Buchwald errichtet. Während Hitlers Regime wurden dort ungefähr 56.000 Menschen ermordet; im Anschluss benutzte es die sowjetische Militärregierung als Internierungslager. Rund 7.000 Inhaftierte kamen dort in den folgenden 5 Jahren um.
Soweit zur Vergangenheit der kleinen Stadt, die viele für den Geburtsort deutscher Kultur halten, und die es zu kennen gilt, will man verstehen, was wie eine nette kleine Stadt mit 64 Tausend Einwohnern tut und doch eigentlich Deutsche Geschichte im Laborversuch ist.
Mein dritter Tag in Weimar fühlt sich an, als sei ich gemütliche drei Wochen hier. Ich kenne niemanden mehr, habe aber vermutlich alle Einwohner der Stadt schon einmal getroffen in den letzten 48 Stunden. Ich habe langsam in allen Cafés der Stadt gesessen, die Angestellten sind freundlich, und ich beginne wieder mit dem Thüringer Tonfall zu reden, der klingt als hätte man Kartoffelbrei im Mund. Nu bringisch Ihnen, heißt es, wenn man einen Kaffee bestellt. Dann dauert es sehr lange, denn die Weimarer sind die Berner der DDR. Nicht schnell aber heute freundlich. Ich laufe zum gefühlten zehnten Mal die Innenstadt ab. Die Siedlung am Ettersberg, ehemals für KZ-Angestellte errichtet, erfreut sich auch heute großer Wohnbeliebtheit; die handtuchgroßen Reihenhäuser, um die Röhrstraße, innere Gartenzwerge. Der Süden der Stadt offenbarte die Tragik der Enttäuschten. Straßenzüge bebaut in einem pompösen, eklektizistischen Stil. Stein gewordene Melancholie, die große Sehnsucht mehr zu sein, als der Bürger einer kleinen Stadt in der mal etwas los gewesen sein musste. Die Villen mit Statuen sprengen jeden kleinstädtischen Rahmen, Großmannssucht, ein schönes Wort, dass ich noch nie verwendet habe. In diesen Wohnungen saßen damals die Professoren, die Bildungsbürger mit Parteibuch, die angestellten Genossen Kunstschaffende. Unerreichbar für den normalen Mittelfeld-Weimarer. Heute wohnen hier vielleicht die reichen Rentner aus dem Westen, von denen immer wieder die Rede ist. Das zehnte Mal durch den wunderbaren Friedhof, in der Erwartung einer seelischen Umarmung. Es umarmt nichts, ich erkenne nichts wieder, außer das Gefühl der Langeweile, das langsam von meinen Füßen in den Kopf aufsteigt. Gegen Langeweile half mir Natur immer gut. Damals, wenn ich die Blicke der Menschen in der Stadt nicht mehr ertrug, die mich oft ansahen, als ob ich außerirdisch wäre, was ich mir vielleicht nur eingebildet hatte, war ich in die Natur gegangen, die in Weimar freundlich vorhanden ist. Der Schanzengraben, ein verstecktes kilometerlanges Naturreservat, in dem früher und heute nie jemand ist. Ein Traum-Ort, in dem man erwacht in Feuchtigkeit umgeben von paradiesischen Apfelbäumen, von denen ich Erkenntnis stehle. Es ist endlich warm geworden. Im August. Satte 24 Grad, ich bin schon wieder auf dem Markplatz, er scheint mich zu verfolgen. Ich kenne unterdessen fast alle Kutscher in der Stadt, die Rostbratwurststände laufen geschmiert, die Läden in der Innenstadt brummen, die Arbeitslosigkeit ist mit 9,8 Prozent überschaubar, das Durchschnittseinkommen liegt bei 2.468 Euro und 3% der Weimarer sind Ausländer. Die Rechtsradikalen eher in den Landgemeinden versteckt, sie kommen selten, um Touristen zu erschrecken. Nur ab uns zu sieht man in der fast französisch wirkenden Schillerallee karikaturhaft deutsch wirkende junge Menschen mit Schäferhunden. Es gibt zwei besetzte Häuser, auf die der Weimarer fast stolz ist; das ist gelebte Subkultur, und selbst die Touristen fotografieren die beiden Häuschen in der Gerberstraße. Es gibt kaum mehr verfallene Häuser, alles ist sorgsam geputzt, versiegelt die gesamte Stadt, mit einem Tuch überdeckt, und nachts ist es so ruhig, dass man das Rauschen des Blutes im eigenen Körper hört. Dabei gibt es doch Clubs, den alten Kasseturm in dem die Studenten immer noch Bart tragen, den Ami, den Jugendclub, in dem gerade, damals undenkbar, der jiddische Sommer mit Tanz und Musik stattfindet.
Weimar am späten Nachmittag. Die Stadt scheint gebaut. Für einen Architekten gibt es nicht sehr viel zu tun. Neue Gebäude sind rar in der Stadt. Gretchens Hotel ist ein gelungenes Beispiel neuer, aufregender Architektur, die Siedlung am Horn und ein paar misslungene Versuche, wie die Weimarhalle, die aus dem All auf die Stadt geschissen wurde.
Was kann man schon gegen diese Übermacht von historischem Stein setzen? Einer, der die Stadt wesentlich geprägt hat, ist Professor Dr. Gerd Zimmermann, der nicht als Professor Doktor angesprochen werden will. Er war 19 Jahre lang der Rektor der Bauhaus Universität, und ihm ist es zu verdanken, dass die Universität heute das Siegel: Internationalste Uni Deutschlands trägt. Gerade ist der Eröffnungstag der Sommer-Schule, an der junge Menschen aus der ganzen Welt teilnehmen. Das erklärt das Straßenbild, das im Moment von vielen schönen Jungen bestimmt ist. Nicht auszudenken, dass sie wieder abreisen. Zimmermann ist ein humorvoller, neugieriger Mensch, zufrieden vermutlich mit dem Gefühl, dass er wirklich etwas bewegt, etwas Greifbares geschaffen hat. „Es gibt wohl keinen anderen Ort als Weimar“, sagt er, „an dem der Glanz, das Drama, aber auch die Farce deutscher Kultur und Politikgeschichte wie in einem Brennglas sich derart bündeln“. Zimmermann wurde wie alle Erneuerer angefeindet, aber er hat durchgehalten - und seine Zufriedenheit darüber ist offensichtlich. „Es gibt eigentlich nur drei verschiedenen Gruppen in Weimar: der dumpfe Bodensatz, Nazis im Geiste, die erzkonservativen Bildungsbürger und die Jungen, die Hoffnung. Die Gruppen mischen sich nicht, beeinflussen sich nicht, sie bekämpfen sich.“ Seine größten Feinde findet Zimmermann im Lager der Bildungsbürger; jenen, bei denen der Kulturbegriff mit Goethe und Schiller endet, die zu Massen in die Stadt einfallen. Zimmermanns Radius in der Stadt langt von der Steinallee, eine der prächtigsten, zu seinem Campus, einem der schönsten. Zimmermann lebt gerne in Weimar. „Man trifft die interessanten Menschen schnell, es ist lebenswert hier, grün.“
Das will ich wohl glauben, überall hat es ja ein paar Menschen, die einen selber reflektieren und einem das Gefühl zu leben geben. Mehr als 3-4 findet man doch nirgendwo, das ist doch eine Illusion, dass man in New York jeden Abend umrundet von interessanten Menschen auf Dachterrassen stünde. Eine Illusion, dass man jeden Abend zu einem großartigen Kulturereignis ginge, ins Theater in Weimar gehen nicht mehr viele, es steht immer noch wie ein Monolith in der Mitte der Stadt, die Schritte auf den Steinplatten hallen, es scheint leerer geworden hier. Nichtssagender. Mir nichts sagend. Damals war der Theaterplatz mit Sehnsucht verbunden. Und Aufregung. Ich ertrug die Hoffnungslosigkeit mit Fluchten in bildungsbürgerliche Nischen. Mit Tagen in Bibliotheken oder Theaterbesuchen. Die Stars am DNT Weimar, Regine und Detlef Heintze, ein hochbegabtes, schönes Schauspielerpaar, in einen der beiden war jeder Jugendliche , der ins Theater floh, verliebt. Auf einmal fällt mir der Titel eines Stückes und ein paar Lieder ein: Fiktiver Report über ein amerikanisches Popfestival. Was als sozialistische Abschreckung gedacht gewesen war, hatte die gegenteilige Wirkung. Die Schauspieler in engen Lederhosen, Musik zum Mitsingen, die Idee Rauschgift zu nehmen. Ich habe es vermutlich 30 mal gesehen. Detlef Heintze, der Star aus meiner Jugend, in Lederhosen, der damals etwas Unerhörtes repräsentierte: Schönheit und eine virile Freiheit , ist unterdessen pensioniert. Und er liest meine Bücher. Als ich davon erfuhr, hatte ich das Gefühl von einem Kreis, der sich schloss, doch ich wusste nicht zu sagen, welcher und warum.
„Weimar war, ist und bleibt ein Provinznest.“ sagt Heintze „Immer krampfhaft bemüht, sich zur Bedeutung aufzuplustern und immer scheiternd an seiner unerträglichen provinziellen Murkeligkeit. Wie gern würde ich Goethe fragen: Weimar! Warum Weimar.“ Heintze, der in Weimar geblieben ist, und immer noch mit seiner schönen Frau zusammen, beschreibt die Jahre, die mir fehlen :“Nachdem die vielen Möchtegern und Wendegewinnler Weimar heimgesucht und im Eilschritt wieder verlassen hatten, hat die Stadt die neuen Möglichkeiten gut genutzt, die DDR-Wunden geheilt. Die Tourismusindustrie hat die Stadt leider zu einem Disneyland “Weimarer Klassik” gemacht, leicht bekömmlich und im Kurzdurchlauf. Und da Weimar so schön gemütlich geworden ist, wird es zunehmend zum Ruhestandssitz betuchter ( natürlich West -)Rentner. Das Theater ist nunmehr nur noch pro forma wichtig. Also, einfach dass es da ist, mit seinem Denkmal davor, als zentraler Platz der Stadt, als postkartenbedeutendes Erkennungszeichen. Ausverkauft waren zuletzt immer die Theaterbälle. Weimar hat seine Protagonisten eigentlich nie geliebt.” Herr Heintze ist geblieben, ich bin gegangen, und ich habe sie geliebt, die Künstler, die Musiker und Maler, die Literaten, die vom Staat nicht geliebten, die sich in Kellern trafen, sich verschwörerisch Gedichte vorlasen, in denen sie die Welt erklärten, in denen ich die Welt sah. Zum ersten Mal habe ich eine körperliche Erinnerung, ich rieche die feuchten Kellerräume, höre einen Langhaarigen ein subversives Gedicht vortragen. Einer der Gäste, die ab und zu bei solchen illegalen Treffen in illegalen Galerien oder illegalen Theatern auftauchten, war der Star der damaligen Literatenszene. Sacha Anderson. Er arbeitete für die Staatsicherheit.
Vermutlich bin ich doch mehr als ich glaubte geprägt vom Geist der bildungsbürgerlichen Werte, die mich nach Erlösung in der Kunst suchen lassen. Eine Erlösung für mich in Weimar findet jetzt statt. In dem Moment, als ich über die Belvederer Allee, vorbei an diesen absurd großen Villen, die Stadt wieder verlasse, und mich mit ihr versöhnt habe. Weimar ist nicht das Böse, es ist eine kleine Studentenstadt mit zu großer Aufladung, die sich nirgends entladen kann. Weimar ist offener geworden, schöner, ein bisschen lebendiger, und ich bin so alt geworden, dass ich mich nicht mehr an meine Vergangenheit erinnern kann, weil sie zu weit entfernt scheint,
„Glücklich Weimar! - Von den Städten allen bist du, Kleine, wunderbar bedacht; man wird stets zu deinen Toren wallen, angezogen von der heil’gen Macht; und man wird nach großen Männern fragen, die in schönen Zeiten hier gestrebt, und mit edlem Neid wird man beklagen, dass man mit den Edlen nicht gelebt.”
dichtete Johann Peter Eckermann.
„Der Ort den wir so Heimat nennen, das sind die Häuser und Alleen, das ist, wo wir die Nachbarn kennen, und wo wir gern zurück hin gehen.“
Dichte ich. Und fahre in meine Heimat. Nach Zürich.